INTERVIEW | „Kanzleramt lässt Lambrecht, Baerbock und Habeck aufeinander los“
Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Vorsitzende des Bundestagsausschusses für Verteidigung, ist am Dienstag mit den Ausschusschefs für Außenbeziehungen und Europa-Angelegenheiten, Michael Roth (SPD) und Anton Hofreiter (Grüne), nach Lwiw gereist, um sich dort mit Parlamentariern zu treffen. Im Interview erklärt die Liberale, was der Kanzler nun tun sollte.
WELT: Frau Strack-Zimmermann, angesichts der Entwicklung des Kriegs in der Ukraine sind die Nato-Staaten nun bereit, Kiew auch schwere Waffen zu liefern. Eine richtige Entscheidung?
Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Ein klares Ja. Auch meine Sicht der Dinge hat sich geändert. Angesichts der Brutalität dieses Krieges, der nun bereits seit sechs Wochen tobt, gibt es heute nur eine Antwort, die Russland versteht: Weiter in Gesprächen zu versuchen, den Krieg zu beenden – aber sichtbar mit der Hand am Colt.
Das bedeutet, Deutschland muss der Ukraine auch schwere Waffen liefern, sofern diese für die ukrainische Armee handhabbar sind, um sich erfolgreich zur Wehr setzen zu können.
WELT: Das gilt ausdrücklich auch für Deutschland?
Strack-Zimmermann: Selbstverständlich. Wir müssen allerdings aufpassen, dass wir dabei die Bundeswehr nicht wehrlos machen. Und wir sollten uns nicht vor den Karren der Industrie spannen lassen, die jetzt manches Material, was bereits lange abgeschrieben auf dem Hof steht, noch vertreiben will. Das kann im Einzelfall sinnvoll sein, aber es gilt genau zu prüfen, was der Ukraine denn auch tatsächlich hilft.
WELT: Die Bundesregierung war schon mit der Lieferung leichter Waffen wie Stinger oder Panzerfäusten extrem zögerlich, seit die Ukraine am 19. Januar, also lange vor Kriegsbeginn, erstmals um Ausrüstungshilfen bat. Warum ist das so?
Strack-Zimmermann: Wir haben mehrere Ministerien, die sich mit dem Thema beschäftigen. Natürlich das Verteidigungsministerium, ebenso das Außenministerium, aber vor allem das Wirtschaftsministerium, da dort die Unterschrift geleistet werden muss, wenn es um die Ausfuhr von Waffen geht – oder um Lieferungen, die wir früher an einen Dritten verkauft haben und die jetzt weitergegeben werden.
Das Kanzleramt lässt derzeit die Ministerinnen Lambrecht, Baerbock und Minister Habeck gewissermaßen aufeinander los. Die Häuser gönnen sich manches Mal nicht das Schwarze unterm Nagel – oder wollen bei unangenehmen Themen lieber aus dem Licht in den Schatten treten. Aber es gibt einen, der letztlich den Weg vorzugeben hat: und das ist der Bundeskanzler, Olaf Scholz.
WELT: Der das Thema mit seiner sicherheitspolitischen Zeitenwende auch zur Chefsache erklärt hat.
Strack-Zimmermann: Zu Recht. Man darf nicht vergessen, dass im Verteidigungsfall die Befehls- und Kommandogewalt auf den Kanzler übergeht. Das heißt, er ist dann der erste Kriegsherr, wenn es zu einem Angriff auf deutsches Territorium käme.
Scholz hat das Thema verbal zur Chefsache gemacht. Jetzt muss er aber nicht nur den Mund spitzen, sondern auch pfeifen.
WELT: Aber er will offenbar nicht. Wird er von seiner Fraktion oder seiner Partei gebremst?
Strack-Zimmermann: In der SPD-Fraktion gibt es nüchterne Realpolitiker, mit denen ich sehr gut und vertrauensvoll zusammen arbeite, die Kolleginnen und Kollegen im Verteidigungsausschuss und die parlamentarischen Staatssekretäre. Und dann gibt es natürlich auch Mitglieder der SPD-Fraktion, die sich noch in Schockstarre befinden, weil ihr Russland-Bild brutal zusammengebrochen ist. Ich glaube, dass der Kanzler noch zu viel Rücksicht auf deren Befindlichkeiten nimmt.
Aber das kann in einer solchen Krisensituation nicht Maßstab des Handelns sein. In so einem Augenblick muss man seinem eigenen Kompass folgen. Es gilt, dem eigenen Land und auch Europa Orientierung zu geben. Unsere Verbündeten erwarten eine deutsche Führungsrolle, keinen deutschen Mitläufer. Der Bundeskanzler muss diese Rolle annehmen – nicht laut, nicht breitbeinig, nicht polternd, aber doch entschieden.
WELT: Also was konkret erwarten Sie jetzt von Scholz in Sachen schwere Waffen?
Strack-Zimmermann: Dass er den Ministerien klarmacht, was er erwartet, dabei keinen Interpretationsspielraum lässt – und dass diese dann liefern. Der Kanzler hat die Richtlinienkompetenz, die muss er nutzen, natürlich unter Einbeziehung des kundigen militärischen Ratschlags. Das macht er derzeit nicht.
Zudem befürchte ich, dass einige Leute im Kanzleramt heute schon versuchen, die Figur des Kanzlers für die Nachwelt zu modellieren. Es wird schon am Denkmal gemeißelt: Scholz soll historisch betrachtet nicht als Kriegskanzler in die Geschichte der Bundesrepublik eingehen. Ich hoffe, ich liege damit falsch, denn das wäre politisch fatal.
In einer solchen Krise darf es nicht um bella figura gehen, es geht um Entscheidungen – nach bestem Gewissen. Das können natürlich im Nachhinein auch Fehlentscheidungen sein, so wie Frau Merkels Appeasement-Politik gegenüber Russland und Putin. Das ist Politik.
WELT: Ist Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) der herausfordernden Lage gewachsen? Aus der Union waren bereits Rücktrittsforderungen zu hören.
Strack-Zimmermann: Frau Lambrecht steht loyal zum Kanzler. Zur Union: Die schießen sich gerade selbst ins Knie, und zwar mit voller Ladung. Wer 16 Jahre dieses Haus geführt – übrigens ebenfalls mit zu Beginn unerfahrenen Ministern und Ministerinnen – und die Bundeswehr in diese Lage gebracht hat, der sollte sich selbstkritisch zurückhalten. Nach nicht mal 100 Tagen und der Konfrontation mit einem Krieg in Europa so etwas zu fordern, spricht für sich selbst.
WELT: Bereits Ende Februar übermittelten deutsche Rüstungsfirmen der Bundesregierung Listen von Waffen, die sie der UKR liefern könnten. Kennen Sie im Bundestag diese Listen?
Strack-Zimmermann: Die liegen uns offiziell nicht vor. Es fällt daher auch schwer, bei kursierenden unterschiedlichen Listen aus der Industrie, dem Ministerium und der Ukraine selbst noch durchzublicken, wenn darüber in der Öffentlichkeit gestritten wird. Ich glaube, der einzig sinnvolle Weg ist es, dass sich alle europäischen Länder zusammensetzen und abstimmen, wer was zur Verfügung stellen kann. Das ist kein Wettbewerb, das kann nur als Konzert funktionieren.
Am schnellsten dürfte es gehen, wenn nun zunächst unsere osteuropäischen Partner jene Waffen liefern, die noch aus der Zeit der Sowjetunion stammen. Damit kennen sich die Ukrainer aus, die sind sofort bedienbar und einsatzfähig. Und wir kompensieren das mit anderem, modernem Gerät, so wie das gerade in der Slowakei passiert ist. Die haben das alte Flugabwehrsystem S-300 in die Ukraine geschickt, die Bundeswehr und andere haben dafür Patriot-Staffeln in der Slowakei stationiert.
WELT: Wenn nicht über die Listen: Wird das Parlament über erfolgte Waffenlieferungen informiert, über den vierteljährlichen Rüstungsexportbericht hinaus?
Strack-Zimmermann: Wir Abgeordnete dürfen in der Geheimschutzstelle Einsicht in die erfolgten Lieferungen nehmen, aber nicht darüber reden. Das ist unbefriedigend. Ich verstehe, wenn nicht über Lieferungen der Zukunft geredet werden soll, man muss Putin die Aufklärungsarbeit ja nicht zu leicht machen.
Wenn die Waffen und das sonstige Equipment aber ausgeliefert und im Einsatz sind, könnte man transparent damit umgehen. Das machen andere Länder auch. Ich empfehle dem Bundeskanzler, das ebenfalls zu tun – und sich im eigenen Land wie international nicht immer vorwerfen zu lassen, Deutschland würde nichts tun
WELT: Die bekannt gewordenen Angebote der deutschen Industrie, sei es über Schützenpanzer Marder oder die Panzerhaubitze 2000, haben eines gemein: lange Lieferzeiten. Schnell gehe es nur, wenn die Bundeswehr Waffen abgebe und dann von der Industrie ersetzt bekomme. Das Ministerium lehnt dieses Vorgehen mit Verweis auf knappe Bestände und Bündnisverpflichtungen ab. Wie sehen Sie die Lage?
Strack-Zimmermann: Ich teile die Auffassung der Bundeswehr. Wir können aus dem Bestand liefern, solange es die Schlagkraft der eigenen Armee nicht mindert. Wir können nicht Material liefern, bei dem wir dann drei Jahre lang warten, bis es ersetzt wird. Das Argument, es würde aber jetzt und sofort benötigt, greift zu kurz.
Gerade in dieser Bedrohungslage muss auch die Nato stark aufgestellt sein. Wir können in Litauen zum Beispiel jetzt nicht unseren Schützenpanzer Marder abziehen. Eine Schwächung der Verteidigungsfähigkeit der Nato-Ostflanke hielte ich angesichts der Unberechenbarkeit Putins für fahrlässig. Wir müssen entweder europäisch abgestimmt liefern, oder die Rüstungsindustrie liefert deutlich schneller, als sie das derzeit anbietet.
WELT: Bei westlichen Waffensystemen stehen auch die Probleme der Ausbildung an diesen für die Ukraine unbekannten Systemen und die logistische Versorgbarkeit zum Beispiel mit Ersatzteilen im Raum. Wie könnte man das lösen?
Strack-Zimmermann: Das können Sie so schnell nicht lösen. Es gibt eine entsprechende Ausbildung, die kann man mit Sicherheit komprimieren, weil sie es ja auch mit Soldaten in der Ukraine zu tun haben, bei denen sie nicht bei null anfangen und die Erfahrungen mit Panzern haben.
Jetzt handelt es sich aber um komplexe Systeme, die eines Zusammenwirkens der Mannschaft bedürfen. Und die übrigens auch technisch gewartet gehören und mit Ersatzteilen logistisch versorgt werden müssen.
WELT: Sehen Sie eine Möglichkeit, wie Deutschland schnell helfen könnte in dieser Lage?
Strack-Zimmermann: Ich wünschte mir, dass die Exekutive offener kommuniziert, wozu sie grundsätzlich bereit ist – und das dann auch konkret und schnell umsetzt. Mehr Transparenz würde der Debatte helfen und wäre übrigens auch für einen sachgerechten Vergleich mit anderen Nato-Partnern hilfreich. Die kommunizieren nämlich wesentlich geschickter, deutlich weniger verkniffen.
Interview geführt von Thorsten Jungholt