Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann

INTERVIEW: "Unter diesen Umständen ein falsches Signal, Nordstream 2 an den Start gehen zu lassen"

Marie-Agnes Strack-Zimmermann
Archivbild

Frau Strack-Zimmermann, sind Sie in Sorge aufgrund der Situation rund um die Ukraine und Russland?

Es ist eine sehr ernstzunehmende Situation. Russland hat über 100.000 Soldaten an der ostukrainischen Grenze stehen. Das ist insofern besorgniserregend, als Russland offensichtlich keinen Respekt davor hat, dass jedes Land – auch die Ukraine – selbst zu entscheiden hat, mit welchem Bündnis es kooperiert. Die europäische Sicherheitsstruktur ist Garant und Voraussetzung dafür, dass wir über Jahrzehnte friedlich haben zusammen leben können. Wir müssen registrieren – und zwar nicht erst seit 2014 mit der russischen Annexion der Krim und dem Einmarsch in die Ostukraine, dass Russland immer wieder versucht, militärischen Druck auf osteuropäische Nachbarn auszuüben. Wir sehen das mit großer Sorge, aber auch mit der klaren Haltung, dieses Gebaren nicht zu tolerieren.

Putin will Russland scheinbar wieder zu einer Weltmacht früherer Jahre aufbauen. Teilen Sie diese Einschätzung?

Russland hat ein im Vergleich zur Größe des Landes relativ geringes Bruttoinlandsprodukt. Es entspricht im Umfang dessen von Italien. Das heißt, dass Russlands große wirtschaftliche Probleme hat und es den Menschen dort an sehr vielem mangelt. Militärisch also ein Riese, wirtschaftlich ein Zwerg. Putin lenkt von der Situation im Inland ab. Es ist ja ein bekanntes Mittel: wenn’s im Inland Probleme gibt, kümmert man sich um die Außenpolitik in der Hoffnung, dass das Volk dann zusammenrückt. Putin lebt offensichtlich in der Vergangenheit. Es wird immer wieder die Geschichte der letzten 20 Jahre hervorgeholt, um die Zukunft zu gestalten. Er möchte, dass es wieder zwei Einflusssphären gibt: die der Russen und die der Amerikaner. Ein absolutes No-Go. Ich hätte offen gestanden nicht für möglich gehalten, dass ich das zeitlebens noch erleben werde. 

Was kann der Westen, was kann Deutschland tun, um zu verhindern, dass Putin seine Macht über die Grenzen ausweitet? Können Sie ihm irgendetwas anbieten?

Wir führen mit ihm Gespräche in unterschiedlichen Formaten. Der NATO-Russland-Rat hat das erste Mal seit 2019 getagt und die EU-Verteidigungsminister haben sich soeben in Brest getroffen. Auf Ebene der OSZE, in der die USA und Russland Mitglied sind, finden auch Gespräche statt. Aber es ist schon skurril: Putin spielt mit dem Feuer und wir sollen uns nun darüber Gedanken und ihm Angebote machen, dass er sich dabei nicht die Finger verbrennt. Miteinander zu sprechen, ist grundsätzlich richtig. Sehr gut ist auch, dass auf allen Ebenen Russlands Ansinnen nicht akzeptiert wird. Darüberhinaus muss es eine Selbstverständlichkeit sein, dass es Gesprächsformate gibt, an denen Europa beteiligt wird, wenn die USA und Russland über Europa sprechen.

Vitali Klitschko sagte kürzlich auf CNN, dass zwar alle über die Ukraine sprächen, aber das Land bei den NATO-Russland-Gesprächen gar nicht dabei gewesen wäre.

Es ist daher ein wichtiges Zeichen, dass Außenministerin Baerbock bevor sie nach Moskau reist, nach Kiew aufbricht, um sich mit der ukrainischen Regierung auszutauschen. Die Ukraine muss wissen, dass die NATO an ihrer Seite steht, auch wenn die Ukraine kein Mitglied des Nordatlantik-Paktes ist. 

Vladimir Putin ist eben sehr wichtig, dass es zu keiner weiteren NATO-Osterweiterung mit Georgien und der Ukraine kommt. Können Sie sich perspektivisch einen Beitritt der Ukraine überhaupt vorstellen?

Es wurde akzeptiert, dass es einen östlichen Puffer zwischen Russland und dem Gebiet der NATO-Mitglieder gibt. In Stein gemeißelt sollte das aber nicht sein. Interessant ist darüber hinaus, was aufgrund des aggressiven russischen Auftretens gerade bei einem anderen russischen Grenznachbarn passiert. Finnland hat eine über 1300 km lange Grenze mit Russland und hat sich bisher bündnisneutral verhalten. Nun entbrennt im Land eine politische Diskussion darüber, Mitglied der NATO zu werden, aus Sorge, dass Russland auch den Finnen gegenüber aggressiv auftreten könnte. Putin erreicht also das Gegenteil dessen, was er will. Er treibt die, die sich bisher bündnisneutral verhalten haben, geradezu in die Arme der NATO.

Welche Rolle kann Nordstream 2 als Druckmittel noch spielen?

Der amerikanische Präsident hat erklärt, dass niemand ein Interesse daran hat, einen Krieg zu führen. Das will in Europa wahrhaft keiner. Putin muss aber wissen, dass das Risiko und der Preis für eine militärische Aktion steigen. Nur so wird er von einer Aggression abzuhalten sein. Der destruktive Mephisto entspricht seiner Psyche. Den Dialog verlacht er, wenn keine reale Stärke und Entschiedenheit dahinter stehen. Es werden derzeit viele Gespräche zur Deeskalation geführt. Aber selbstverständlich werden alle Optionen diskutiert werden müssen, welche Konsequenzen Putins Drohungen dem Westen gegenüber hat. Dazu gehört auch, dass ihm harte wirtschaftliche Sanktionen drohen. Angela Merkel hat immer behauptet, Nordstream 2 sei eine reine privatwirtschaftliche Frage – das ist natürlich Unsinn. Es handelt sich bei dieser Gasleitung um eine geostrategisches Thema. Russland hat ein großes Interesse daran, dass Deutschland mit Nordstream 2 an den Start geht, schließlich ist Deutschland ein großer Gasabnehmer. Unter diesen Umständen ist es aber ein völlig falsches Signal, Nordstream 2 an den Start gehen zu lassen.

Es klingt immer wieder an, dass ein Problem auf europäischer Ebene ist, dass nicht mit einer Stimme gesprochen wird. Wie bekommt man alle mehr auf Linie?

27 Länder haben manchmal unterschiedliche Perspektiven. Ich empfinde es allerdings als problematisch, dass die EU-Länder bisher keine stringente gemeinsame Linie in der Außen- und Sicherheitspolitik haben. Putin versucht daher immer wieder, Europa zu spalten und zu destabilisieren. Darunter fällt auch der hybride Angriff seitens Belarus, Flüchtlinge an die Grenze zu Polen zu transportieren, um Druck auf die EU zu machen. Ohne das Einverständnis Russlands wäre das nicht geschehen.

Wünschen Sie sich dafür mehr Leadership von Deutschland und Bundeskanzler Scholz?

Aufgrund des wirtschaftlichen Potenzials kommt auf Frankreich und Deutschland eine wichtige Rolle zu. Unter der deutschen EU-Präsidentschaft hätte da deutlich mehr kommen müssen. Das wird jetzt die Aufgabe der neuen Bundesregierung sein. 

Allerdings hat Außenministerin Annalena Baerbock in der Sache sehr konkret und direkt kommuniziert.

Das begrüßen wir sehr. Es ist grundsätzlich gut, deutlich und unmissverständlich zu sprechen. Klare Ansagen ohne rum zu eiern. Ich bin optimistisch, dass die neue Bundesregierung gemeinsam mit den Partnern einen guten Weg findet.

Glauben Sie, dass es unter Putin zurück zu einem vertrauensvollen Verhältnis mit dem Westen kommen kann? Welche Weichen müssen dafür gestellt werden?

Wir sollten immer mit Russland den offenen Austausch suchen , wollen wir auch in Zukunft in einem friedlichen Europa leben. Aber eines muss klar sein: ein Aufweichen oder gar Verändern der europäischen Sicherheitsstruktur wird es mit uns nicht geben.

Interview von Laura Schäfer