Dr. Marie-Agnes Strack-Zimmermann

INTERVIEW: "Für diese Katastrophe ist die Bundesregierung verantwortlich"

Marie-Agnes Strack-Zimmermann

ntv.de: Was treibt Sie mit Blick auf die Situation in Afghanistan derzeit besonders um?

Marie-Agnes Strack-Zimmermann: Die große Sorge um deutsche Staatsbürger, die noch in Kabul sind, und die Befürchtung, dass die afghanischen Ortskräfte, denen wir zugesagt haben, dass sie nach Deutschland kommen können, nicht mehr rechtzeitig den Flughafen erreichen. Wir hören, dass die Taliban nur Ausländer zum Flughafen durchlassen. Das berührt mich zutiefst.

Drei Ministerien hatten beziehungsweise haben noch immer Ortskräfte in Afghanistan: das Auswärtige Amt, das Bundesverteidigungsministerium und das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit. Hat eines dieser Häuser nach Ihren Informationen früh genug mit Evakuierungsmaßnahmen begonnen?

Es fing bereits vor Monaten an, dass das von Horst Seehofer geführte Innenministerium die Ausreise der Ortskräfte nach Deutschland nicht mit dem erforderlichen Engagement vorangetrieben hat. Die große Mehrheit der Mitglieder der Fraktionen war der Meinung, dass die Ortskräfte ausgeflogen werden müssen. Gescheitert ist es an zeitraubenden bürokratischen Hürden. Hinzu kam die Konkurrenz zwischen den von der CSU, der CDU und der SPD geführten Ministerien, die sich ihre Verantwortung gegenseitig zugeschoben haben. In dem Augenblick, als die Bundeswehr Afghanistan endgültig verlassen hatte, gab es auch keinen zentralen Anlaufpunkt mehr, wo sich die Ortskräfte hätten registrieren lassen können. Sie mussten nach Kabul, nach Delhi oder nach Islamabad. In dem Augenblick hat die christlich-soziale Bundesregierung ihre schützende Hand weggezogen und sie damit ihrem Schicksal überlassen.

Können Sie erklären, warum die erste Bundeswehr-Maschine, die Kabul im Rahmen der Evakuierungsaktion verlassen hat, nur sieben Menschen in Sicherheit gebracht hat?

Bei der Bewertung einer solchen Maßnahme sollten wir zurückhaltend sein. Die Maschine hat vor der Landung lange über Kabul gekreist, musste zwischendurch zum Benzin aufnehmen in ein sicheres Drittland ausweichen. Danach wurde ein neuer Versuch gestartet. Die Landung, wenn die Informationen stimmen, muss schwierig gewesen sein. In Kabul konnten 80 Fallschirmjäger abgesetzt werden, deren primäre Aufgabe es ist, eine Luftbrücke zu organisieren und die Menschen, die wir ausfliegen wollen, sicher zum Flughafen zu begleiten. Offensichtlich war die Situation so schwierig, dass die Maschine gleich wieder abgeflogen ist. Natürlich ist das schrecklich angesichts der Dramen, die sich am Kabuler Flughafen abgespielt haben, vor allem, wenn man die Bilder des gestrigen Abends sieht, wo die USA eine Maschine bis zum Rand mit Menschen gefüllt und damit gerettet haben.

Verteidigungsministerin Kramp-Karrenbauer hat die Verzögerung bei der Ausreise von Ortskräften vor ein paar Tagen damit begründet, dass Afghanistan die Leute nur aus dem Land lasse, wenn sie einen afghanischen Reisepass haben.

Sich hinter solchen bürokratischen Formalien zu verschanzen, das ist genau das Problem. Wir hätten bereits im Januar mit der Evakuierung der Ortskräfte anfangen können. Der Kabuler Flughafen - auch der zivile Teil - war seinerzeit offen, es gab Linienmaschinen der Turkish Airlines, es gab Charterflüge. Jetzt, wo alles zu spät ist, wo die Taliban Kabul eingenommen und den zivilen Teil des Flughafens geschlossen haben, jetzt, wo es brennt, werden bürokratische Ausreden vorgebracht. Das ist Zynismus pur.

Sie haben den Rücktritt des Außenministers und der Verteidigungsministerin gefordert.

Heute ist das Gebot der Stunde, so viele Menschen wie möglich aus dieser Hölle zu holen und in den kommenden Tagen das UNHCR, das sich an den Grenzen Afghanistans um die Flüchtlinge kümmert, entsprechend logistisch und finanziell zu unterstützen. Dann aber werden wir uns politisch mit denen auseinandersetzen, die allen Bitten und Mahnungen zum Trotz dieses Desaster zu verantworten haben.

Erwarten Sie eine Fluchtbewegung aus Afghanistan?

Die Erfahrung lehrt, dass Menschen in der Regel in ihrer Heimat bleiben wollen und sich in den Nachbarländern aufhalten in der Hoffnung, in ihre Heimat zurückkehren zu können. Aber natürlich kann man davon ausgehen, dass einige versuchen werden, sich Richtung Europa auf den Weg zu machen.

Innenminister Seehofer hat gesagt, er rechne damit, dass 300.000 bis fünf Millionen Afghanen die Flucht ergreifen.

Solche Zahlen mal eben in den Raum zu werfen, ist verantwortungslos und mit Verlaub selten dumm. Damit stärkt man nur rechte Gruppierungen, die aus der Angst vor Flüchtlingen politisches Kapital schlagen wollen.

Deutschland setzt die Entwicklungshilfe für Afghanistan aus. Ist das unter dem Gesichtspunkt der Fluchtbewegungen möglicherweise ein Fehler? Und bestraft man damit nicht Leute für eine Entwicklung, für die sie nichts können?

Vorerst die Hilfe auszusetzen macht Sinn. Angesichts der Machtübernahme der Taliban dürfen wir nicht riskieren, dass die Taliban damit ihren islamistischen Gottesstaat aufbauen. Jetzt sollte die Bundesregierung beim IWF und der Weltbank darauf drängen, vorerst keine Mittel mehr an das Land auszuzahlen.

Die Entscheidung für den Abzug aus Afghanistan fiel in Washington. Wie groß ist die Verantwortung der Bundesregierung für die aktuelle Situation?

Die Bundesregierung ist verantwortlich für diese Katastrophe. Als FDP haben wir seit vier Jahren mantraartig eine Exit-Strategie verlangt. Wir haben eine Evaluierung des Einsatzes eingefordert, unter anderem um uns ein Bild darüber zu machen, wie wirkungsvoll die Ausbildung der afghanischen Streitkräfte ist. Nichts ist passiert. Dass es in absehbarer Zeit zu einem Abzug der Truppen kommen würde, war in dem Moment klar, als Präsident Trump in Doha das Gespräch mit den Taliban begann und ihnen eine Bühne bot. Die Bundesregierung hätte also genug Zeit gehabt, neben dem militärisch-logistischen Abzug die Ausreise der Menschen in den diplomatischen Vertretungen und der Ortskräfte vorzubereiten. Dass das nicht passiert ist, ist unverzeihlich. Aus der deutschen Botschaft gab es genug Hinweise, die auf die prekäre Situation vor Ort hingewiesen hat. Offensichtlich hat das Auswärtige Amt diese nicht ernst genommen. Für solche Fehler und Fehleinschätzungen mit der Folge des Nichthandelns trägt die Bundesregierung die Verantwortung - allen voran die Kanzlerin, der Außenminister, die Verteidigungsministerin und der Innenminister.

CDU-Chef Armin Laschet hat gesagt, man müsse bei Auslandseinsätzen der Bundeswehr klären, was genau das Ziel ist, wie lange sie dauern sollen und müsse vor allem an das Ende der Einsätze denken. Hat er Recht?

Wenn Herr Laschet meint, er müsse sich dazu äußern, hört man förmlich das Papier rascheln, von dem er abliest. In der Tat sollte man das Ende bedenken, wenn man etwas beginnt, er hätte das als Ministerpräsident des größten Bundeslandes und CDU-Bundesvorstandsmitglied seiner Kanzlerin mal zeitnah erklären sollen und unsere Forderungen nach einer Exit-Strategie und einer Evaluierung des Afghanistan-Einsatzes unterstützen können. Fehlanzeige!

Interview von Hubertus Volmer