Afghanistan: Die seltsame Geheimniskrämerei im Auswärtigen Amt
„Dass beim Abzug aus Afghanistan einiges gewaltig schiefgelaufen ist, das bestreitet auch die Bundesregierung nicht. ‚Unterschätzt haben wir, wie umfassend und atemberaubend schnell die afghanischen Sicherheitskräfte ihren Widerstand gegen die Taliban aufgaben beziehungsweise gar nicht erst aufgenommen haben‘, sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vorige Woche bei ihrer Regierungserklärung im Bundestag. International hätten ‚alle die Geschwindigkeit dieser Entwicklung unterschätzt. Das gilt auch für Deutschland.‘
Was die Kanzlerin nicht sagte: Ihre Regierung könnte noch mehr unterschätzt haben. Es steht der Verdacht im Raum, dass zwei Ministerien frühzeitig über die Vorbereitungen der Amerikaner für die Evakuierungsoperation aus Kabul informiert waren, aber erst mit tagelanger Verzögerung darauf reagierten. Marie-Agnes Strack-Zimmermann, verteidigungspolitische Sprecherin der FDP im Bundestag, jedenfalls hegt diesen Verdacht. Sie glaubt, dass die Rettungsmission der Bundeswehr etliche Tage früher hätte starten und somit mehr Menschen aus dem von den Taliban eroberten Kabul hätten herausgeholt werden können.
In einer Sondersitzung des Verteidigungsausschusses am 25. August hatte Strack-Zimmermann Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) gefragt, ob sie vorab Informationen von den Amerikanern über die geplante Evakuierung bekommen habe. Die Verteidigungsministerin verneinte das ebenso wie der Generalinspekteur der Bundeswehr, Eberhard Zorn. Der Soldat erwähnte allerdings einen Drahtbericht der deutschen Botschafterin in Washington, Emily Haber, vom 6. August, einem Freitag.
Der Bericht wurde an das Auswärtige Amt übersandt, eine Kopie an das Verteidigungsministerium. Zur Kenntnis genommen wurde er nach Strack-Zimmermanns Recherchen erst nach dem Wochenende: am Montag im Außenamt, vom Generalinspekteur erst am Mittwoch. Was in dem Papier steht, ist als geheim eingestuft.
Strack-Zimmermann will wissen, was drinsteht
Strack-Zimmermann aber will wissen, was drinsteht: Hatte Haber bereits Informationen über die bevorstehende US-Operation? In der Sitzung des Verteidigungsausschusses beantragte die Liberale Einsicht in den Drahtbericht. Gewährt wurde ihr das bis heute nicht.
‚Sehr geehrte Damen und Herren‘, schrieb die FDP-Politikerin nun in einer Beschwerdemail an das Verteidigungsministerium, ‚in der Sondersitzung des Verteidigungsausschusses am 25.08.2021 wurde uns zugesagt, dass der Kabelbericht zu den jüngsten Vorgängen in Afghanistan vom 06.08.2021 von der Deutschen Botschaft an das Auswärtige Amt (Kopie an das BMVg) uns zur Einsicht vorgelegt werden kann.‘ Es sei ‚nicht zu akzeptieren‘, dass in der Geheimschutzstelle des Bundestags auch Anfang September noch nichts angekommen sei: ‚Ich gehe zwingend davon aus, dass ich den betreffenden Kabelbericht am Montag, dem 06.09.2021 um 12:00 Uhr in der Geheimschutzstelle einsehen kann.‘
Im Wehrressort heißt es, man habe nichts gegen eine Lektüre des Kabelberichts durch Strack-Zimmermann. Man habe dem Auswärtigen Amt vorgeschlagen, dass Dokument in der Geheimschutzstelle vorzulegen oder die Einstufung als geheim zu ändern. Das sei jedoch abgelehnt worden. Das sei misslich, aber das Auswärtige Amt sei für die Berichte seiner Diplomaten nun mal federführend zuständig. Das Außenministerium reagierte auf eine entsprechende Anfrage von WELT bis Donnerstagabend nicht. Der Fall wird dort auf Staatssekretärsebene betreut. […]
Strack-Zimmermann aber fragt sich nun: Warum mauert das Haus von Heiko Maas (SPD), was hat es zu verbergen? Die ihr informell übermittelte Erklärung, in dem Kabelbericht seien die Namen von Personen genannt, die geschützt werden müssten, überzeugt die Abgeordnete nicht. Die ließen sich schwärzen. Ihr geht es um die Frage: Hätte die Bundesregierung bereits am 6. August von den US-Planungen wissen können?
Denn dann hätte man viele Tage verschenkt: Die Vorbereitungen für die Evakuierungsoperation der Bundeswehr begannen erst am 13. August, also acht Tage nach dem womöglich ersten Hinweis. Das erste Transportflugzeug startete am 16. August aus Wunstorf (Niedersachsen) nach Taschkent. Aus der usbekischen Hauptstadt wurde dann eine Luftbrücke nach Kabul eingerichtet. Mit 37 Flügen holte die Bundeswehr in knapp zwei Wochen 5347 Personen aus Afghanistan heraus. Mit einem um drei, vier Tage früheren Beginn hätten es womöglich deutlich mehr sein können.
Für Strack-Zimmermann ist klar, dass sich in der Organisation der nächsten Bundesregierung einiges ändern muss. Sie plädiert für einen Nationalen Sicherheitsrat, der den Informationsaustausch der Ressorts besser vernetzt und schneller macht. Und im Wehrressort fehle ‚ein Führungszentrum, das die Inhaberin der Befehls- und Kommandogewalt auch führungsfähig macht’. Derzeit blieben Informationen liegen, ‚weil es Freitagnachmittag ist und sich am Wochenende keiner im Ministerium drum kümmert‘.“
Artikel von Thorsten Jungholt